Gesunkener Frauenanteil im Bundestag

Mögliche Auswirkungen auf die Sitzungskultur – und die politische Kultur generell

Kennst du das? Du sitzt in einem Meeting, hast eine brillante Idee und teilst sie mit – und dein männlicher Kollege wiederholt dieselbe Idee fünf Minuten später und erntet dafür Anerkennung? Oder du wirst mitten im Satz unterbrochen, während deine männlichen Kollegen ungestört ausreden dürfen?

Wenn du jetzt nickst, bist du nicht allein. Diese Erfahrungen machen Frauen nicht nur in Unternehmen, sondern auch in einem der wichtigsten demokratischen Räume unseres Landes: im Deutschen Bundestag.

Die nackten Zahlen: Rückschritt statt Fortschritt

Der Frauenanteil im aktuellen Bundestag liegt bei 32,4 Prozent – ein Rückgang im Vergleich zur vorherigen Legislaturperiode, in der er noch bei 34,8 Prozent lag. Das ist alarmierend, denn statt voranzuschreiten, bewegen wir uns rückwärts.

Wie sieht es in den einzelnen Fraktionen aus?

  • Bündnis 90/Die Grünen: 61,2% (2021: 58,5%)

  • Die Linke: 56,2% (2021: 53,9%)

  • SPD: 41,7% (2021: 41,8%)

  • CSU: 25% (2021: 22,2%)

  • CDU: 22,6% (2021: 23,8%)

  • AfD: 11,8% (2021: 13,3%)

Bei der Union insgesamt liegt der Frauenanteil bei nur 23,1 Prozent – nicht einmal ein Viertel! Noch erschreckender: Bundesweit liegt der Anteil weiblicher Bürgermeisterinnen bei gerade einmal 14 Prozent.

Warum ist das ein Problem?

Vielleicht fragst du dich: "Na und? Ist doch egal, ob Männer oder Frauen im Bundestag sitzen, solange gute Politik gemacht wird." Das klingt zunächst logisch, aber:

  • Es handelt sich um ein demokratisches Legitimationsproblem. Frauen machen mehr als die Hälfte der Bevölkerung aus, sind aber nicht entsprechend repräsentiert.

  • Es fehlt ein vielfältiger Blick auf Lebenssituationen. Politik betrifft alle Bereiche des Lebens – und Frauen haben oft andere Erfahrungen und Perspektiven als Männer.

  • Das Grundgesetz gibt uns einen klaren Auftrag: "Männer und Frauen sind gleichberechtigt. Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin." (Art. 3 Abs. 2 GG)

  • Der Fortschritt für die Gleichstellung wurde in den letzten Jahrzehnten hart erkämpft – und kann auch immer wieder verloren gehen, wenn wir nicht wachsam bleiben.

Wie wirkt sich der geringe Frauenanteil auf die Sitzungskultur aus?

Du kennst es vielleicht aus deinen eigenen Meetings: Die Dynamik verändert sich, je nachdem, wie die Gruppe zusammengesetzt ist. Im Bundestag ist das nicht anders.

1. Männlich geprägte Kommunikationsmuster verstärken sich

Studien belegen es immer wieder: Männer ergreifen häufiger das Wort, sprechen länger und unterbrechen Frauen öfter als umgekehrt. Dieser Effekt verstärkt sich, wenn die Gruppe überwiegend männlich ist.

Die Soziolinguistin Deborah Tannen hat in ihren Forschungen gezeigt, dass Männer und Frauen tendenziell unterschiedliche Kommunikationsstile pflegen. Während Männer oft einen direktiven, statusorientierten Stil bevorzugen, neigen Frauen eher zu einem verbindenden, beziehungsorientierten Stil. In männerdominierten Räumen wird der direktive Stil schnell zur Norm – wer sich nicht anpasst, wird überhört.

2. Die Themenvielfalt leidet

Wenn Frauen in der Minderheit sind, leiden bestimmte Themen. Nicht, weil Männer sich nicht für "Frauenthemen" interessieren könnten, sondern weil die Erfahrungshorizonte unterschiedlich sind. Kinderbetreuung, Pflege, Vereinbarkeit von Familie und Beruf, aber auch spezifische Gesundheitsthemen oder Gewalt gegen Frauen – all das sind Bereiche, in denen Frauen oft andere, persönlichere Perspektiven einbringen können.

3. Das "Thomas-Prinzip" in Reinform

Kennst du das "Thomas-Prinzip"? Es besagt, dass Menschen dazu neigen, andere zu fördern, die ihnen ähnlich sind. Wenn die Führungsebene von Männern dominiert wird (oft genug von Männern namens Thomas oder Michael), werden mit höherer Wahrscheinlichkeit auch wieder Männer in Führungspositionen berufen.

Im Bundestag zeigt sich das etwa bei der Besetzung von Ausschüssen oder bei der Vergabe von Redezeiten. Der "Old Boys Club" oder das "Thomas-Prinzip" kann sich ungehindert entfalten, wenn kein ausreichendes Gegengewicht vorhanden ist.

4. Aggressive und konfrontative Debatten

In männerdominierten Gremien ist die Debattenkultur oft konfrontativer. Studien aus der Konfliktforschung zeigen, dass gemischte Teams tendenziell kooperativer arbeiten und eher konsensorientierte Lösungen finden. Der geringe Frauenanteil im Bundestag kann also durchaus zu einer aggressiveren, weniger lösungsorientierten Debattenkultur beitragen.

5. Der Ton wird rauer

Weibliche Abgeordnete berichten immer wieder von sexistischen Zwischenrufen und persönlichen Angriffen. Besonders aus den Reihen der AfD sind frauenfeindliche Zwischenrufe keine Seltenheit. AfD-Politiker Maximilian Krah ging sogar so weit zu behaupten: "Feminismus heute ist Krebs".

Solche Äußerungen erinnern an Zeiten, die wir eigentlich überwunden glaubten – an das "Gegeifer", dem sich Waltraud Schoppe (Grüne) 1983 bei ihrer historischen Rede im Bundestag ausgesetzt sah, als sie über Frauenrechte sprach.

Der mediale Fokus: Outfit statt Inhalte

Auch die Medienberichterstattung ist noch immer von einem anderen Blick auf Politikerinnen als auf Politiker geprägt. Während bei Männern Inhalte und politische Positionen im Vordergrund stehen, werden bei Frauen häufig Äußerlichkeiten thematisiert: Kleidung, Frisur, Stimme.

Erinnerst du dich an die Debatte über Angela Merkels Dekolleté bei den Bayreuther Festspielen 2008? Tagelang diskutierten Medien über ihren Ausschnitt, während die politischen Themen in den Hintergrund rückten. Oder denk an Annalena Baerbock im Bundestagswahlkampf 2021, bei der nicht nur ihre politischen Positionen, sondern auch ihr Aussehen, ihre Kleidungswahl und sogar ihre Lache zum Gegenstand medialer Analysen wurden. Bei ihren männlichen Kollegen wurde hingegen primär über Inhalte berichtet. Solche Fokussierungen auf Äußerlichkeiten tragen dazu bei, dass Politikerinnen oft nicht in erster Linie als kompetente Fachfrauen wahrgenommen werden.

Was tun? Strategien für mehr Parität im Bundestag

Die CDU-Politikerinnen machen es vor: Sie wollen sich nicht mehr abspeisen lassen. Mechthild Heil fordert in einem Brief an Friedrich Merz und Thorsten Frey eine paritätische Besetzung von Spitzenämtern im Bundestag und in der zukünftigen Bundesregierung. Auch Julia Klöckner betont inzwischen die Vorbildfunktion der Partei.

Es gibt verschiedene Ansätze, um den Frauenanteil im Bundestag zu erhöhen:

  • Quotenregelungen: Ja, Quoten sind manchmal unbeliebt. Aber sie wirken! Die Parteien mit den höchsten Frauenanteilen (Grüne, Linke) haben verbindliche Quotenregelungen.

  • Reform des Wahlrechts: Das Problem liegt oft bei den Direktmandaten. Denn dort, wo nur eine Person gewählt wird, wird leider noch oft ein Mann bevorzugt. Hier können parteiinterne Regelungen oder Paritätsgesetze für mehr Ausgewogenheit sorgen.

  • Mentoring-Programme: Organisationen wie "Beruf Politik" der Hertie-Stiftung, "Brand New Bundestag" oder "Join Politics" unterstützen gezielt Frauen auf dem Weg in die Politik.

Praktische Tipps gegen Mansplaining und Unterbrechungen

Doch was kannst du tun, wenn du bereits in einer Position bist, in der du mit Mansplaining und Unterbrechungen konfrontiert wirst? Sei es im Bundestag, im Stadtrat oder im Unternehmensmeeting?

Kennst du dieses Phänomen? Ein männlicher Kollege erklärt dir ausführlich etwas, womit du dich seit Jahren beruflich beschäftigst oder worin du sogar Expertin bist. Dieses sogenannte "Mansplaining" ist in vielen Kontexten präsent und kann besonders frustrierend sein. Hier sind einige selbstbewusste Reaktionsmöglichkeiten:

  1. Das Verhalten spiegeln: "Interessant, dass du mir das erklärst. In meiner Position als [Expertin/Verantwortliche] für diesen Bereich begegne ich diesem Thema täglich. Was ist dein Hintergrund dazu?"

  2. Freundlich, aber bestimmt unterbrechen: "Danke für deine Ausführungen. Da ich seit [Zeitraum] in diesem Bereich arbeite, bin ich mit den Grundlagen vertraut. Was mich wirklich interessieren würde, ist deine Meinung zu [spezifischer Aspekt]."

  3. Die Perspektive wechseln: "Stell dir vor, jemand würde dir erklären, wie dein eigenes Fachgebiet funktioniert. Genau das passiert gerade. Lass uns auf Augenhöhe diskutieren."

  4. Mit Humor reagieren: Ein lockeres "Oh, das wusste ich tatsächlich schon - aber danke für die Zusammenfassung!" kann manchmal Wunder wirken, ohne die Atmosphäre zu vergiften.

Wirksame Taktiken gegen ständige Unterbrechungen

Kennst du das Gefühl, kaum einen Gedanken zu Ende formulieren zu können, bevor jemand dir ins Wort fällt? Unterbrechungen sind häufig genau dann besonders störend, wenn Frauen in männerdominierten Umgebungen sprechen. Hier sind effektive Methoden für mehr Redezeit:

  1. Fundierte Vorbereitung: Gehe mit klaren Punkten und Daten in jedes Meeting. Je besser du vorbereitet bist, desto selbstsicherer wirst du auftreten und desto schwieriger wird es, dich aus dem Konzept zu bringen.

  2. Den roten Faden bewahren: Entwickle die Fähigkeit, nach einer Unterbrechung genau dort wieder einzusteigen, wo du aufgehört hast. Ein einfaches "Wie ich gerade sagte..." kann Wunder wirken.

  3. Starke Körpersprache einsetzen: Aufrechte Haltung, offene Gestik und direkter Blickkontakt signalisieren: Ich habe etwas zu sagen und ich werde gehört werden.

  4. Die "Brücken-Technik" anwenden: Verbinde deine unterbrochene Aussage mit der Unterbrechung und führe dann deinen ursprünglichen Gedanken fort: "Das knüpft gut an meine Überlegung an, bei der ich war..."

  5. Das Muster durchbrechen: Sprich die wiederholten Unterbrechungen sachlich an: "Ich bemerke, dass wir in ein Muster geraten, bei dem ich häufig unterbrochen werde. Ich würde gerne meine Gedanken vollständig ausführen können."

  6. Allianzbildung praktizieren: Etabliere ein Unterstützungssystem mit anderen Frauen oder aufmerksamen Kollegen nach dem "Amplification"-Prinzip: Wenn eine Frau unterbrochen wird, greift eine andere ein und gibt ihr das Wort zurück.

  7. Kommunikationsrahmen gestalten: Nimm Einfluss auf die Gesprächskultur, indem du Moderationsrollen übernimmst oder Redezeit-Regelungen vorschlägst, die allen gleichermaßen Raum geben.

Die richtige Mindset-Entwicklung

Neben praktischen Reaktionsmustern ist vor allem deine grundsätzliche Einstellung wichtig für nachhaltigen Erfolg:

  • Verabschiede dich vom Harmoniebedürfnis – manchmal ist konstruktive Konfrontation notwendig und wertvoll.

  • Erlaube dir Klarheit statt Nettigkeit – Durchsetzungsvermögen und Freundlichkeit sind keine Gegensätze, aber manchmal muss die Klarheit Vorrang haben.

  • Hinterfrage eingefahrene Muster – Wenn dir jemand sagt "So machen wir das hier schon immer", ist das eine Einladung zum kritischen Nachdenken, nicht zum Nachgeben.

  • Bereite dich mental vor – Entwickle ein Repertoire an Reaktionen für wiederkehrende Situationen. Bei Schlagfertigkeit kommt es nicht auf Originalität an, sondern auf den schnellen Wiederspruch.

Brauchen wir mehr Frauen in der Politik?

Die Antwort ist ein klares Ja! Nicht nur, weil es gerecht ist, sondern weil diverse Teams nachweislich bessere Ergebnisse erzielen. Studien zeigen, dass Unternehmen mit einem höheren Frauenanteil in Führungspositionen wirtschaftlich erfolgreicher sind. Warum sollte das in der Politik anders sein?

Der Politikwissenschaftler Robert Putnam hat gezeigt, dass Gesellschaften mit höherer Gendergerechtigkeit auch insgesamt demokratischer, friedlicher und wohlhabender sind. Eine ausgewogene Repräsentation von Frauen in der Politik ist also nicht nur eine Frage der Gerechtigkeit, sondern auch der Qualität politischer Entscheidungen.

Was können Organisationen tun?

Nicht nur einzelne Frauen, auch Organisationen können einiges tun, um die Situation zu verbessern:

  • Bewusstsein schaffen: Sensibilisierungsmaßnahmen für unbewusste Vorurteile und geschlechtsspezifische Kommunikationsmuster durchführen.

  • Moderationsrichtlinien einführen: Klare Regeln für die Moderation von Sitzungen festlegen, die sicherstellen, dass alle Stimmen gleichberechtigt gehört werden.

  • Effektive Mentoring- und Stärkungsprogramme etablieren: Programme fördern, die Frauen in ihrer Kommunikations- und Durchsetzungsfähigkeit stärken.

  • Unterstützungsnetzwerke aufbauen: Allianzen mit anderen Frauen und unterstützenden Kollegen schmieden, um sich gegenseitig zu stärken.

Ein Blick in die Zukunft

Es gibt Hoffnung! Initiativen wie die der Hertie-Stiftung ("Beruf Politik" unter Projektleiterin Luisa Hofmeier), "Brand New Bundestag", die Stiftungen der Parteien und "Join Politics" arbeiten aktiv daran, mehr Frauen für die Politik zu begeistern und zu fördern.

Auch das wachsende Bewusstsein ist ein wichtiger Schritt. Die Diskussion um Parität in der Politik ist präsenter denn je – und das ist gut so!

Fazit: Es geht um mehr als nur Zahlen

Die Unterrepräsentation von Frauen im Bundestag ist nicht nur ein statistisches Problem. Sie wirkt sich konkret auf die Sitzungskultur, die behandelten Themen und letztlich auf die Politik aus, die für alle Menschen in Deutschland gemacht wird.

Wenn wir eine wirklich repräsentative Demokratie wollen, müssen wir dafür sorgen, dass Frauen gleichberechtigt an politischen Entscheidungsprozessen teilhaben können – frei von Mansplaining, Unterbrechungen und sexistischen Angriffen.

Als Frauen können wir selbstbewusst für unseren Platz am Tisch eintreten. Gleichzeitig braucht es strukturelle Veränderungen, damit aus dem aktuellen Rückschritt wieder ein Fortschritt wird.

Wenn du Unterstützung dabei suchst, deine Führungskompetenz zu stärken und souveräner mit solchen Situationen umzugehen, melde dich gerne – gemeinsam können wir an deiner Durchsetzungsfähigkeit in männerdominierten Umfeldern arbeiten.

Was denkst du? Hast du ähnliche Erfahrungen gemacht? Ich freue mich auf deine Gedanken und Kommentare!

Sarah Sorge

Sarah Sorge war viele Jahre Politikerin auf kommunaler und Landesebene, u.a. Landtagsabgeordnete im Hessischen Landtag und Stadtverordnete und Dezernentin in Frankfurt am Main. Schon aus dieser Zeit bringt sie Erfahrungen, Tipps und Anekdoten zu Machtspielchen, Sichtbarkeit und Haltung für Frauen in Politik und Führung mit. Von 2019 bis 2023 war sie Geschäftsführerin der Akademie Mixed Leadership. Hier hat sie an der Schnittstelle zwischen Weiterbildung und Forschung gearbeitet. Der Fokus diese Akademie der Frankfurt University of Applied Sciences liegt auf nötigen Strukturveränderungen für Führung & Diversität, für Frauen in Führung und auf ‚Female Empowerment‘.

Nebenberuflich arbeitete Sarah Sorge bereits seit 2016 als Coach für Frauen in Führung mit dem Schwerpunkt Politik und Verwaltung und als Trainerin für das Thema ‘Female Empowerment’. Seit 2024 konzentriert sie sich als Freiberuflerin mit voller Kraft auf diese Themen.

http://www.sorge-coaching.de
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In Meetings durchsetzen und faire Regeln einfordern